Hohegeiß – Rothesütte

Geflohen und zurückgeschleppt

Große Zeitungs-Schlagzeilen gab es im September 1967 über den missglückten Fluchtversuch eines DDR-Grenzsoldaten: „Zwei Vopos schlugen Flüchtling bewusstlos“, „Geflohener Grenzer aus dem Westen zurückgeholt“, „Fluchtdrama an der Zonengrenze“.

Allerdings hatte damals von westlicher Seite aus niemand das Geschehen beobachtet. Es gab nur Spuren, Vermutungen. Auch seitens der DDR sollten nicht zu viele Einzelheiten bekannt gemacht werden, denn schließlich handelte es sich bei dem Vorfall um Schusswaffengebrauch – und noch dazu auf westlichem, also „feindlichem“ Gebiet. Darum war es nicht verwunderlich, dass damals zu dem Fluchtversuch manches Falsche erzählt und gedruckt wurde, wie es auch heute noch gelegentlich der Fall ist.

Diese Vorgänge sind inzwischen lange her, und erst jetzt – nach 47 Jahren – konnte manches geklärt werden. Es begann mit einem Anruf bei Friedemann Schwarz vom Hohegeißer Museumsverein, in dem ein Herr aus Hannover bat, das Hohegeißer Museum besuchen zu können. Der Name des Herrn war Ralf Wolfensteller, was zunächst nichts Besonderes schien. Doch das änderte sich schnell, als er ergänzte, er sei derjenige, der 1967 den vergeblichen Fluchtversuch gemacht hatte.

Schon für den nächsten Tag wurde ein Besuch im Heimatmuseum verabredet. Dabei gab es so viele interessante Informationen, dass ein weiteres Gespräch anstand. Das war dann eine Viererrunde, an der auch die früher in Hohegeiß tätigen Zollbeamten Fritz Jentzsch und Manfred Gille teilnahmen.

Die beiden früheren Zollbeamten Manfred Gille (li.) und Fritz Jentzsch (re.) im lebhaften Gespräch mit dem „Flüchtling“ Ralf Wolfensteller. Foto: Schwarz

Wie der 1946 in Leipzig geborene Ralf Wolfsteller berichtete, hatte er schon als Jugendlicher den Wunsch, „in den Westen“ zu kommen. Der Bau der Berliner Mauer machte alle Pläne zunichte, aber als er später als Wehrpflichtiger zur Grenzkompanie Rothesütte kam, sah er seine Chance. Am 25. September 1967 wurde er zu einer Dreierstreife eingeteilt, „Grenzaufklärer“, die auf östlicher Seite unmittelbar an der Grenzlinie zu gehen hatten. Ihre Aufgabe war es, die Grenzsteine und die -säulen mit den auf der Westseite – also „feindwärts“ – angebrachten und immer wieder beschädigten DDR-Emblemen zu überprüfen. Dabei gingen sie zwar unmittelbar an der Grenze entlang, hatten aber strenge Anweisung, bei den Kontrollen das Gebiet der „BRD“ nicht zu betreten.

Am gleichen Tag waren auf westlicher Seite die beiden Zollbeamten Fritz Jentzsch und Peter Schmelter unterwegs. Sie waren mit einem Zollauto zum Jägerfleck gebracht worden, machten eine „Grenzbegehung“. Sie sollten von westlicher Seite aus den Grenzverlauf kontrollieren und eventuelle Veränderungen feststellen.

Bei der Hinfahrt zum Jägerfleck hatte man die jeweils „Anderen“ jenseits der Grenze gesehen, dies aber nur registriert, ohne Besonderes zu bemerken. Als das Zollauto auf dem Weg zum Jägerfleck schon mehrere Hundert Meter entfernt war, kam Wolfensteller zu einer dicht an der Straße stehenden Grenzsäule. Er kontrollierte die Westseite der Säule, drehte sich dann plötzlich um, überquerte mit zwei Schritten die Grenzlinie und rannte über die B 4 in das angrenzende Waldstück. Der Kompaniechef folgte ihm auf westliches Gebiet und schoss aus etwa 12 Meter Entfernung auf den Flüchtenden, der an Brust und Arm getroffen wurde, sich aber trotz dieser Verletzungen noch heftig wehrte.

Schließlich wurde er vom Kompaniechef und dem Dritten der Grenzaufklärer-Gruppe aus dem Wald und über die Straße zurück auf DDR-Gebiet geschleppt. Da er das Bewusstsein verloren hatte, kann er sich nur noch an eine spätere Notoperation in Blankenburg erinnern.

Von westlicher Seite hatte man zwar bei Hohegeiß Schüsse gehört, aber sonst nichts feststellen können. Erst als die beiden Zollbeamten bei ihrer Grenzbegehung an den Ort des Geschehens kamen, bemerkten sie Schleifspuren im taufeuchten Gras und auf der Straße. Sie verfolgten die Spur nach Westen bis in den Wald und fanden eine Mütze, Einschüsse in Bäumen und weitere Hinweise auf das, was sich da abgespielt hatte.

Ralf Wolfensteller wurde später angeklagt und zu fünfeinhalb Jahren im Speziallager Berlin-Hohenschönhausen verurteilt. Nach vier Jahren wurde er 1971 „freigekauft“, „ausgebürgert“ und in einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ in die Bundesrepublik abgeschoben.

Das alles wurde wieder lebendig, als sich der damalige Flüchtling Wolfensteller und der frühere Zollbeamte Jentzsch nach 47 Jahren erstmals trafen. Beide berichteten, was sie von damals wussten, und manches falsch Überlieferte konnte im Gespräch korrigiert werden.